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Geschichte des Deutschen Schachbundes

 

 

in drei Teilen und vier Abschnitten

 

von

Harald E. Balló, Offenbach/M.

Teil I

im März 2002

 

1. Teil 1861 - 1879

Einleitung

Die hier vorgelegte Arbeit zur Geschichte des Deutschen Schachbundes (nicht des Schachs in Deutschland) umfasst in Abweichung von dem 125 Jahre (1877-2002) ausmachenden Jubiläumszeitraum lediglich eine Zeitspanne von etwa 85 Jahren und versucht diejenigen Vorgänge darzustellen, welche zwischen 1861, dem Jahr der Gründung des Westdeutschen Schachbundes, und 1945, in dem für eine kurze Zeit in Deutschland sämtliche Schachaktivitäten darniederlagen und auch der DSB zu Bestehen aufhörte, stattfanden. Diese Beschränkung musste einerseits im Hinblick auf die Komplexität des Gegenstandes erfolgen, denn schon die Vorgänge um den Großdeutschen Schachbund in den Jahren 1933 bis 1945 können nur schlaglichtartig beleuchtet werden, weil eine wirklich erschöpfende Bearbeitung des Schachs in der Zeit des Nationalsozialismus, auf die der Autor hätte zugreifen können, auch weiterhin noch aussteht. Die Vorgänge nach 1945, die durch den zweiten Wiederaufbau des Deutschen Schachbundes (nach dem 1. Wiederaufbau 1918) in der Bundesrepublik Deutschland, den Aufbau des Deutschen Schachverbandes in der Deutschen Demokratischen Republik und schließlich durch die Vereinigung von DSB und DSV am 29. September 1990 in Leipzig charakterisiert sind, können nicht hinreichend dargestellt werden. Hierfür sind andererseits auch Raum- und Zeitgründe verantwortlich gewesen, zumal dem Autor sowohl eine bloß chronologische Aufzählung von Daten zur DSB-Geschichte als auch eine bloß hagiographische Abhandlung nicht sinnvoll erschien. Der Interessierte mag hier an die vorzüglichen Chroniken der Landesverbände verwiesen werden, von denen beispielhaft die von Diel (Bayern), Herter (Württemberg) und Willeke (Niedersachsen), von dem auch eine posthum veröffentlichte, lesenswerte Abhandlung über das Arbeiterschach in Deutschland vorliegt, zu nennen sind.

1. Die Zeit des Aufbaus bis zur Gründung des DSB (1861-1877)

Das Schachspiel stellt ein in die allgemeine Kulturentwicklung eingebettete Tätigkeit des Menschen dar und sie folgt deshalb den allgemeinen Linien der Kulturgeschichte. Schach wurde in Deutschland mit Sicherheit bereits im Mittelalter gespielt. Heinrich von Freiberg beispielsweise kannte das Schachspiel und seine Regeln. Er lebte als Hofdichter im Dienste von hohen böhmischen Adligen etwa in den Jahren 1285-1290 und schrieb eine Fortsetzung von Gottfrieds von Straßburg unvollendet gebliebenen Tristan, in der eine Schachstelle (Verse 4144 ff.) mit dem wohl ältesten verbürgten, wenn auch literarisch erhöhten Kreuzschach vorkommt. Auch im Ruodlieb, einem nach dem Titelhelden benannten mittellateinischen Epos, das im letzten Drittel des 11. Jahrhunderts im Kloster Tegernsee verfasst wurde, wird das Schachspiel erwähnt.

Organisiertes Schach jedoch finden wir in Deutschland erst mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts als in den großen deutschen Städten Berlin, Breslau und Hamburg Schachvereine gegründet wurden. Im Zuge der allgemeinen soziokulturellen, technischen und ökonomischen Entwicklung kam es in Deutschland unter gelegentlicher Überbetonung eines gutmütigen Nationalismus romantischer Prägung in den Jahren 1860 bis 1880 zur Gründung von regionalen Schach-Organisationen, die den Weg für die Gründung eines Allgemeinen Deutschen Schachbundes ebneten. Maßgeblichen Einfluß hatte dabei Dr. Dr. Max Lange (1832-1899), der schon frühzeitig publizistisch und auch praktisch-organisatorisch auf die Errichtung eines Deutschen Schachbundes hingearbeitet und die allgemeinen Zeichen der Zeit erkannt hatte. In einer Arbeit über die britische Schachassoziationen schreibt er: „In den Associationen oder grösseren Vereinigungen, welche sich unter den Genossen derselben Arbeit oder Beschäftigung über lokale Grenzen hinaus erstrecken, liegt heutzutage der Schwerpunkt fast aller gesellschaftlichen Entwicklung".

Lange schildert im weiteren die Entwicklung der Schachassoziationen in England, deren erstes regionales Treffen in der Yorkshire Chess Association bereits 1841 und deren erste landesweite Versammlung als British Chess Association am 5. August 1857 erfolgt war, und zieht sie als Vorbild für Deutschland heran.

Nicht zuletzt dank Langes unermüdlicher Aktivitäten kam es in Deutschland in den Jahren 1861 bis 1877 zu mehreren Gründungen regionaler Schachvereinigungen. Bereits 1861 war die Gründung des Westdeutschen Schachbundes in Düsseldorf erfolgt. In Hamburg wurde zu Pfingsten 1868 unter Anwesenheit von Lange der 1. Norddeutsche Schachkongress veranstaltet und Lange in den Vorstand des neu gegründeten Norddeutschen Schachbundes gewählt. Die Veranstaltungen fanden rasch die Unterstützung namhafter Schachmeister von denen insbesondere die Paulsen–Brüder, Louis (1833-1891) und Wilfried (1828-1901), sowie Adolf Anderssen (1818-1879) zu nennen sind. Sie nahmen auch am zweiten Congress des Norddeutschen Schachbundes in Hamburg 1869 teil.

 

Der 1. Congress des Mitteldeutschen Schachbundes fand vom 27. bis 31. Dezember 1871 in Leipzig statt. Initiatoren waren Schachfreunde aus Leipzig und Altenburg. Im Veranstaltercomité waren insbesondere Vertreter des traditionsreichen Leipziger Schachvereins Augustea wie Hofrat Rudolf v. Gottschall, Hermann Haugk, Albert Hartmann, R. Schurig, Johannes Minckwitz, Lulius Lewy, C. Schwede, aber auch C. Pitschel (Altenburg), Ed. Dornstein (Nordhausen), Paul Heppe (Buchholz) und Dr. Hanns von Weissenbach (Dresden). Auch hier war Anderssen unter den Teilnehmern sowie Samuel Mieses aus Bad Ems (Onkel von Jacques), Göring, Pitschel, der Problemkomponist Arthur Gehlert und andere. Bemerkenswert in vielerlei Hinsicht ist hier das Fehlen von Lange und Paulsen, deren Fehlen bedauert wird. Als Zweck des Kongresses wurde ausdrücklich genannt: "Gründung eines Allgemeinen Deutschen Schachbundes". Die Gründer des mitteldeutschen Schachbundes in Leipzig und hier insbesondere die Vertreter des Leipziger Schachvereins Augustea um den Universitätsprofessor Carl Göring (1841-1879), den Hofrat Rudolf von Gottschall (1823-1909) und den Kassierer Hermann Zwanzig (1837-1894) hatten es zu ihrem 1873 stattfindenden 25 jährigen Vereinsjubiläum nicht fertig gebracht, den ursprünglich geplanten zweiten mitteldeutschen Kongress zu veranstalten. Es dauerte weitere fünf Jahre bis im Juli 1876 der zweite Kongress des Mitteldeutschen Schachbundes stattfand und erst auf diesem zweiten Kongress kam es auch formal zur Gründung eines Mitteldeutschen Schachbundes.

Die Süddeutschen Schachfreunde taten sich noch schwerer. Zwar wurde 1874 ein Süddeutscher Schachbund gegründet, dessen Vorsitzende Meusch und Schwarzschild aus Frankfurt/M. und Mitglieder Schachfreunde aus Mainz und Mannheim waren, doch konnte er keine größere Bedeutung entwickeln.

Zur Gründung eines Ostdeutschen Schachbundes kam es gar erst nach 1877 als nach einem Aufruf von G. Schaumburg in Königsberg i. Preußen in der Zeit vom 6. Juli bis 9. Juli 1878 der I. Ostdeutsche „Schach-Congress" stattfand. Die große Entfernung wurde als "Hinderniss einer allgemeinen Betheiligung des östlichen Deutschlands" am allgemeinen Schachleben in Deutschland bezeichnet. Johannes Kohtz (1843-1918) lebte zu dieser Zeit in Königsberg und dürfte sicherlich zur Gründung mit beigetragen haben. Die Teilnehmer kamen aus den Städten Graudenz, Bromberg, Bartenstein, Pakamohnen bei Tilsit und Memel. Unter ihnen war auch der später als Theoretiker bekannter gewordene Oskar Cordel (1843-1913).

Die regionalen Schachtreffen zeichneten sich insgesamt durch eine ausgesprochen gemütliche und gesellige Atmosphäre aus. Anderssen hob beispielsweise in einer Rede hervor, „dass er bereits vielen Schach-Congressen beigewohnt habe, dass ihnen aber die Gemüthlichkeit gefehlt, durch die nur ein deutscher Schach-Congress sich auszeichnen könne". Die Versammlungen hatten auch das Ziel, das schachliche Können auf breiter, allgemeiner Basis zu stärken und es wurde darüber hinaus die Notwendigkeit der Ausformung eines festen Regelwerks deutlich. So begann die Partie Max Lange gegen Wilfried Paulsen (1:0) am 4. August 1868 um 10.00 Uhr morgens und endete erst nach mehr als 17 stündigem ununterbrochenen Kampf um 2.00 Uhr nachts. Die stärksten Meister der Zeit wie Paulsen, Anderssen und Lange unterstützten die Bestrebungen der Schachspieler nach Kräften durch ihre Teilnahme an den Kongressen, so daß die von den Schachbünden organisierten Schachveranstaltungen eine auf die Entwicklung des Schachs in Deutschland außerordentlich positive Wirkung ausüben konnten.

Dennoch sollte die erstmals von Lange entwickelte Konzeption, eine Vereinigung aller deutschen Schachspieler unter dem Dach eines Allgemeinen Deutschen Schachbundes durch die Zusammenfassung mehrerer regionaler Schachbünde herbeizuführen, nicht zur Realisierung gelangen. Und auch der von Johannes Minckwitz 1872 unter dem Pseudonym Labourdonneltzky im Aprilheft der Deutschen Schachzeitung vorgetragene Versuch, der Schachbundidee durch die Gründung einer Aktiengesellschaft zur Aufbringung der zur Gründung eines Allgemeinen Deutschen Schachbundes notwendigen Geldmittel wieder aufzuhelfen, fand keine weitere Resonanz.

Die Ursache dafür ist heute, im Jahre 2002, nur schwer auszumachen. Es fehlte sicher nicht an der notwendigen publizistischen Unterstützung, an der zunächst in der Schachzeitung durch Max Lange und später in der Deutschen Schachzeitung durch Johannes Minckwitz

 

kein Mangel war und es fehlte auch nicht an einzelnen tatkräftigen Persönlichkeiten, die für das Schach bereit waren Geld, Freizeit und Ideen zu opfern, und auch nicht an starken bekannten Meistern, wie Anderssen, Paulsen und Lange. Vielmehr fehlte es an der alle begeisternden, die unterschiedlichen Charaktere der Schachspieler vereinigenden Idee, die dazu hätte führen können, daß die Trägheit der Schachfreunde in ihrer Gesamtheit hätte überwunden werden können, denn an dem Scheitern der Schachbund-Idee waren die Schachfreunde selbst nicht ganz unschuldig und es lag sicher auch, wie ein unbekannter Autor launig formulierte „an der Flauheit (sic!) der näheren und entfernteren, grösseren und kleineren Schachvereine". Eine weitere Ursache dürfte die damals noch nicht gut entwickelte Verkehrssituation im Deutschen Reich gewesen sein, das der industriellen Entwicklung insbesondere von England deutlich hinterherhinkte. Erst in den späten 1870er Jahren hatten alle größeren deutschen Städte einen Eisenbahnanschluß und die größte Dichte im Schienennetz der Deutschen Reichsbahn war gar erst 1914 erreicht. So sollte es bis 1876 dauern, daß in Leipzig die Idee eines Deutschen Schachbundes erneut auf die schachpolitische Tagesordnung gebracht wurde.

2. Die Gründung des DSB im Jahre 1877

Vom 9. bis 13. Juli 1876 fand in Leipzig der zweite mitteldeutsche Kongress statt. Es war keineswegs vorhersehbar, daß von diesem Kongress die Anregung zur Gründung eines Deutschen Schachbundes erfolgreich ausgehen sollte. Ganz im Gegenteil verdeutlicht die Darstellung eines Autors W. in der Deutschen Schachzeitung von 1876, die wegen ihrer plastischen Deutlichkeit an dieser Stelle wörtlich wiedergegeben werden soll, daß hinsichtlich der Gründung eines Schachbundes eher Pessimismus angesagt war.

W. schreibt: „Als nun die ideelle Schöpfung des Congresses einmal vollzogen war, da ging die Leitung der gesammten materiellen Angelegenheiten in die Hände des dermaligen Cassirers der ‚Augustea’, des Herrn H. Zwanzig über, dessen rührige, energische Weise für die thatsächliche Abhaltung und Durchführung des Congresses von höchster Erspriesslichkeit war. Würden alle ‚Bundesmitglieder’ diesen praktischen Eifer bewähren, solcher Mühe und Arbeitslast sich unterziehen, solche wirkliche Aufopferung an den Tag legen, wie würden die ‚mitteldeutschen’ Schachcongresse der Zukunft floriren!

Doch gehen wir zu dem eben dahingerauschten Congresse selbst über. Aus der Erde gestampft wie er plötzlich war, schienen die Auspicien desselben gleichwohl sehr günstige zu sein und Berichterstatter muss aller Skeptik ungeachtet, die er dem Unternehmen von vornherein entgegenbrachte, gestehen, dass ihm dieser Congress eine brillante Erscheinung zu werden versprach. Freilich dass ich es nur ebenfalls gestehe, die Enttäuschung hinterdrein war mir eine schmerzliche! Denn man höre und staune: Dresden hatte sich in pecuniärer Beziehung in sehr gentiler Weise betheiligt, Cassel, mit der imponirenden Zahl von angeblich 102 Mitgliedern, setzte sich mit dem Leipziger Comité behufs Constituirung eines grossen allgemeinen deutschen Schachbundes in Verbindung, selbst das südlich gelegene, aber, der ungemeinen Dehnbarkeit des Begriffes ‚Mitteldeutschland’ zufolge, zur Noth noch darunter zu befassende Nürnberg hatte sich noch angeschlossen – nun, was will man mehr von einem mitteldeutschen Schachbund mit Pleiss-Athen an der Spitze?

Jedoch – weder am Vorabende – so zu sagen am heiligen Abend des Schachcongressfestes – am 9. Juli, noch am 10., noch an einem der folgenden Tage bereitete uns Dresden die Freude, auch nur einen seiner starken Spieler nach Leipzig zu entsenden, während diesmal sogar ein Kleeblatt derselben gerüchtweise verheissen war; weder am 9. noch am 10., noch an einem der folgenden Tage bereitete uns Nürnberg, mit seinem ein halbes Hundert Köpfe zählenden Club dieselbe Freude, weder vom 9. bis zum 13. Juli endlich hatte Cassel etwas anderes gethan, als einen ‚Ueberbringer seiner Grüsse’ entsendet, welcher – ‚o Zartgefühl erröthe du für mich!’ – dem Leipziger Congresscomité sinnig anvertraute, dass der Casseler Schachclub vor jeder über das luftige Wort für die Vereinigung der ‚zersplitterten’ Schachvereine hinausreichende Unterstützung des Unternehmens als vor einer ‚Beleidigung’ zurückscheue ...".

W. schreibt weiter: „Die Turniere waren zu Ende und am Abend des 12. Juli war programmässig 'Berathung in Bundesangelegenheiten" zu halten. Unter der Leitung des Präsidenten der 'Augustea', des geh. Hofraths Rud. Gottschall, verschritt man zu derselben. Die sanft entschlummerte Bundesidee wurde wachgerüttelt. Von dem Casseler Delegirten wurde, wie schon erwähnt, für einen grossen deutschen Schachbund gesprochen. Leider enthielt er sich aller näheren Andeutungen darüber, wie das zu machen sei. Für uns geht aus dem Ganzen bei dieser Gelegenheit Verhandelten und Nichtverhandelten – das letztere überwog bedeutend – nur so viel hervor, dass Leipzig allein keinen ‚mitteldeutschen Schachbund’ repräsentiren kann. Wohl kann es, wenn es so opferwillig sein will, zu seinem Privatvergnügen dann und wann einen ‚Schachcongress’ veranstalten, derselbe hängt aber dann lediglich von jener Stimmung ab und die Stimmung gehört zu dem ‚mulierum variabile genus’. So lange daher die Schachvereine Mitteldeutschlands in absoluter Theilnahmslosigkeit verharren oder sich doch auf ein Minimum von Theilnahme beschränken, spräche man daher passender von einem Leipziger Schachcongresse, der auswärtigen Schachspielern die Theilnahme in generöser Weise gestattet . ... Caissa besser’s!"

Das Bild, das uns W. von den damaligen Schachzuständen recht eindrucksvoll liefert, macht noch einmal deutlich, daß die Teilnahmslosigkeit der Schachfreunde und der Schachvereine ein Hauptgrund für die unzureichende Weiterentwicklung der Schachbundidee gewesen war. Gleichzeitig zeichnet der Bericht aber aus heutiger Sicht auch eine Lösungsmöglichkeit vor, indem der tatkräftige Kassierer Hermann Zwanzig nämlich die Vereine selbst ansprechen und durch persönliche Kontaktaufnahme zur Mitarbeit am Deutschen Schachbund gewinnen konnte.

Zunächst aber musste noch die alle einigende, alle begeisternde Idee hinzutreten, daß Zwanzig zum großen Macher des Deutschen Schachbundes werden konnte. Am 13. Juli 1876, also ein Tag nach der Preisverleihung und der programmgemäßen Beratung der oben geschilderten Bundesangelegenheiten, als die "Champagnerpropfen lustig gegen die Decke zu knallen begannen" schlug der gerade erst 35 Jahre alte Carl Göring für das nächste Jahr eine Anderssen-Feier vor. Wieder sei an dieser Stelle aus W.’s so anschaulichen Bericht zitiert: „dass ... unter dem die Geister erlösenden Einflusse feurigen Rebenblutes eine glänzende Rede die andere, ein schwungvoller Toast den andern drängte, nachdem das Signal hierzu durch Gottschalls sonore Initiative gegeben war, dass Anderssen und M. Lange nicht zurückblieben, sondern sich auch als Meister der Kunst des Wortes bewährten? Es versteht sich ja Alles von selbst! Den Vogel schoss aber zuletzt Dr. Göring, der philosophische Schachmeister, ab, indem er, perorirend und toastirend, mit seiner Idee hervortrat, die, seltsam, wie sie im ersten Augenblicke an das Ohr der Festversammlung tönte, doch alsbald zündend in die Gemüther fiel und begeisterten Wiederhall fand. Er schlug nämlich vor – den ‚Altmeister’ im nächsten Jahre eine Partie (gleichsam eine Haupt- und Staatspartie) in Gestalt eines Jubiläumspreises gewinnen zu lassen, d.h. kurz heraus gesagt, zu Anderssens in das Jahr 1877 fallendem fünfzigjährigen Schachjubiläum einen Jubelcongress zu veranstalten."

Und geradezu prophetisch muten die weiteren Worte von W. an, wenn er schreibt: „Wenn diese Gelegenheit nicht den ‚mitteldeutschen Schachbund’ galvanisch ins Leben zaubert, so ist er gewiss für alle Zukunft lebensunfähig. Doch was! Selbst zur Entstehung eines allgemeinen grossen ‚deutschen Schachbundes’ von Reichswegen böte sich hier die schönste Gelegenheit!".

Die zündende Idee Görings, 1877 eine Anderssenfeier zu dessen 50jährigen Schachjubiläum zu veranstalten, sollte zur Geburtsstunde des Deutschen Schachbundes werden. Die allseits beliebte Persönlichkeit Anderssens, der, so weit aus den Quellen ableitbar ist, so gut wie keine Feinde gehabt hat, gepaart mit dessen Popularität im ganzen Land als Sieger des Londoner Turniers 1851, konnte die deutschen Schachfreunde im wilhelminischen Deutschen Reich von 1877 vereinigen und der Schachbundidee zum Durchbruch verhelfen. Dabei beförderte ein gutmütiger Nationalismus romantischer Prägung die Anfangsentwicklung des Schachbundes ganz außerordentlich. Es soll an dieser Stelle der Hinweis erfolgen, daß aus keiner der heute allgemein zugänglichen Quellen auch nur die Andeutung eines wie auch immer gearteten Antisemitismus ableitbar ist. Es scheint im DSB zumindest vor 1900 keine antisemitischen Ressentiments von hinreichender Wirkungsmächtigkeit, daß sie Eingang in die Berichterstattung gefunden hätten, gegeben zu haben. Wohl sind nationale, der Zeit entsprechende Töne zu hören gewesen, antisemitische Äußerungen aber sind im Ganzen nicht bekannt geworden.

Die Anderssen-Feier fand in Leipzig vom 15. bis 18. Juli 1877 statt. Es erfolgte unter anderem die Überreichung einer kunstvoll gefertigten Anderssen-Säule an den Jubilar, die dessen Erfolge auf dem Schachbrett verherrlichte und die später vom Dresdner Schachverein gekauft wurde. Die Säule bestand aus schwarzem Marmor und war von einem breiten Eichenlaubband aus Gold und Silber umwunden. Sie ruhte auf einem Sockel nebst terassenförmiger Basis aus Serpentinstein. Auf der Säule stand die silberne Figur der Caissa, als Attribut das Schachbrett haltend und mit der Rechten dem Meister einen goldenen Ehrenkranz bietend. Der Sockel trug auf der Vorderseite die Inschrift: „Dem deutschen Schachmeister Prof. Dr. Adolph Anderssen zum fünfzigjährigen Schachjubiläum. Seine Freunde und Verehrer", auf der Rückseite aber ein Diagramm mit der Endstellung der Partie, mit der Anderssen 1851 seinen Sieg gegen den Engländer Howard Staunton entschied. Innerhalb einer um das Diagramm geschlungenen Girlande waren die Daten verschiedener Hauptsiege Anderssens angebracht (London 1851, London 1862, Baden-Baden 1870, Wien 1873, Leipzig 1871, Leipzig 1876).

Am 18. Juli ab 14.00 Uhr trafen sich etwa 50 Schachfreunde darunter Max Lange, Zukertort, Eduard Hammacher, Adolf Anderssen, Dr. Constantin Schwede, Dr. Rudolf Gottschall, Hermann Zwanzig und andere im Trianonsall des Schützenhauses zu Leipzig. Noch immer überwog die Skepsis bei dem kundigen Kenner der deutschen Schachszene, denn Schwede (1854-1917) schrieb in der Deutschen Schachzeitung: "Nach Aufhebung der Tafel wurde die Berathung behufs Stiftung des deutschen Schachbundes begonnen. Offen herausgesagt: sie nahm leider den gleichen Verlauf, wie frühere Versuche derselben Art. Die Mahnung Attinghausens: ‚Seid einig, einig, einig!’ hatte keinen Eingang in die Herzen der Schächer gefunden, und so kam es denn, dass gleich bei der ersten Frage 'Soll die Ausdehnung des deutschen Schachbundes über die politischen Grenzen Deutschlands hinausgehen oder nicht?' die parlamentarische Ordnung nicht unbedenklich gestört wurde. Das Ende vom Lied war, daß ein ziemlich inopportuner Schlussantrag diese wichtige Vorfrage zu den Todten warf.

Die Beschlüsse beschränkten sich auf drei sehr allgemeine Paragraphen.

1. Es wird ein deutscher Schachbund mit wechselndem Vorort gegründet.

2. Nächster Vorort ist Leipzig, und wird Herrn H. Zwanzig (dessen bisherige aufopfernde Thätigkeit sich allgemeiner Anerkennung zu erfreuen hatte) die Leitung der Geschäfte übertragen.

3. Alle 2 Jahre findet ein Congress des Bundes statt.

Hoffen wir, dass diesen Beschlüssen die Thatsache nachfolgt! Allzuviel Vertrauen darf man aber nach früheren Erfahrungen wohl nicht darauf setzen!".

Hermann Zwanzig, Festschrift 1927

Dennoch, der Anfang war gemacht und in der Folgezeit realisierte Hermann Zwanzig durch persönliche Kontaktaufnahme zunehmend die Vereinigung der deutschen Schachfreunde. Dabei kam ihm zustatten, daß er bereits im Vorfeld zur Organisation der Anderssen-Feier, nämlich im Jahre 1876, viele Vereine persönlich und schriftlich kontaktiert hatte, um sie zur Teilnahme an Anderssens Jubiläumsfeier in Leipzig zu bewegen. Zwanzig war von Beruf Kaufmann und handelte mit Spitzen. Seine kaufmännische Tätigkeit machten eine ausgiebige Reisetätigkeit notwendig und er nutzte diese Reisen, um die Schachvereine zum Beitritt und zur Mitarbeit im neu gegründeten DSB zu veranlassen. Zumindest zu Beginn seiner Tätigkeit für den DSB im Jahre 1878 muß Zwanzig jedoch noch an den von Max Lange vorgezeichneten Weg der Vereinigung lokaler Schachbünde geglaubt haben, denn auf sein Betreiben hin fand vom 23.-25 August 1878 in Altona der erste Nordalbingische Schachcongress statt, auf dem der Nordalbingische Schachbund gegründet wurde und der die norddeutschen Schachspieler für den DSB gewinnen sollte. Die Schachbünde waren aber, wie oben bereits ausgeführt, so wenig in sich selbst gefestigt, daß der Ansatz einer sukzessiven Vereinigung derselben, soviel muß Zwanzig im Sommer 1878 deutlich geworden sein, wenig erfolgversprechend gewesen wäre. Im Gegensatz zu Lange ging Zwanzig also den mühsamen Weg über die Rekrutierung der Vereine selbst. Noch im Oktober 1877 erstellte er ein Rundschreiben mit der Aufforderung dem DSB beizutreten, das er an die deutschen Schachvereine und Schachfreunde versendete. Im Oktober 1878 ließ er ein zweites Rundschreiben desselben Inhalts folgen und gab darüber hinaus Mitteilung über den Stand der Angelegenheit.

Am 1. Mai 1879 konnte das Kongresskomité, das den Kongress zu Leipzig 1879 vorbereitete, berichten, daß 59 Schachvereine dem Deutschen Schachbunde beigetreten waren. Sie sollen an dieser Stelle aus historischen Gründen aufgeführt werden: Aachen, Altenburg, Altona, Annaberg, Apolda, Aue im Erzgebirge, Augsburg, Bamberg, Barmen (Schachklub), Berlin (Schachgesellschaft), Berlin (Schachklub), Berlin (Akademischer Schachklub Berlin (Germania), Braunschweig, Bremen (Klub Morphy), Breslau, Bromberg, Cassel, Celle (Schachklub), Celle (Schachkränzchen), Coburg, Cöln a. Rh., Crefeld, Darmstadt, Dresden, Driesen, Eilenburg, Frankfurt a. M., Flensburg, Friedeberg N. M., Görlitz, Göttingen, HaIberstadt, Halle a. S., Hannover, Heide i. Holstein, Itzehoe, Landsberg a. Warthe, Leipzig (Augustea), Leipzig (Akademischer Schachklub), Leipzig (Cafe Francais), Liegnitz, Löberitz b. Halle, Lüneburg, Magdeburg (Schachgesellschaft), Münster, Nürnberg, Posen, Potsdam, Prenzlau, Säckingen i. Baden, Stettin, Trier, Tübingen (Akademischer Schachklub), Weimar, Wesselburen, Wriezen, Wurzen, Zabrze i. Oberschl.. Laut Mitteilung der Deutschen Schachzeitung traten am Kongress selbst noch mindestens drei weitere Vereine nämlich die Schachvereine aus Chemnitz, Fulda und Stolberg dem DSB bei, sodaß eine Gesamtzahl von 62 Gründer-Vereinen resultiert.

Ein Blick auf die Landkarte Deutschlands zeigt, daß der Deutsche Schachbund zum Zeitpunkt seiner Gründung in allen Reichsgebieten zumindest mit einem oder einigen wenigen Vereinen repräsentiert war. Aus Sachsen traten neun Vereine dem DSB bei (Aue im Erzgebirge, Chemnitz, Dresden, Eilenburg, Görlitz, Leipzig drei mal und Wurzen), aus Berlin-Brandenburg sieben Vereine (Berlin mal vier, Potsdam, Prenzlau und Wriezen, aus Schlesien und Posen, die heute Polnisch sind, ebenfalls sieben Vereine (Breslau, Bromberg, Landsberg, Liegnitz, Posen, Stettin und Zabrze) und aus Nordrhein-Westfalen ebenfalls sieben Vereine (Aachen, Barmen, Celle mal zwei, Cöln, Crefeld und Münster). Aus Schleswig-Holstein kamen fünf Vereine (Flensburg, Heide, Itzehoe, Lüneburg und Wesselburen), vier Vereine Vereine kamen aus Hessen (Cassel, Darmstadt, Fulda und Frankfurt am Main) ebenso wie aus Sachsen-Anhalt (Halberstadt, Halle, Löberitz und Magdeburg) und Bayern (Augsburg, Bamberg, Coburg und Nürnberg). Jeweils drei Vereine kamen aus Baden-Württemberg (Annaberg, Säckingen und Tübingen), Niedersachsen (Braunschweig, Göttingen und Hannover) und Thüringen (Altenburg, Apolda und Weimar). Aus Rheinland-Pfalz trat der Trierer Schachverein dem DSB bei und auch die Stadtstaaten Bremen und Altona (Hamburg) waren mit je einem Verein im DSB vertreten.

Es wird deutlich, daß bei der Gründung des DSB nur Vereine innerhalb der Reichsgrenzen vertreten waren und damit die „kleindeutsche" Lösung unter Ausschluß von Österreich und von Gebieten der angrenzenden Länder, in denen große deutsche Minderheiten lebten, realisiert worden war. Immerhin waren aber im Juli, beim Kongress selbst, die beiden Wiener Schachmeister Englisch und Schwarz anwesend. Sie spielten im Meisterturnier mit und nahmen als Gäste auch an der Generalversammlung des DSB teil. Dabei brachte von Gottschall „ein Hoch aus auf die Schachspieler in Österreich, speciell auf die Wiener Schachgesellschaft und deren Delegirte, die Herren Englisch und Schwarz. Der Deutsche Schachbund werde bereitwilligst Hand in Hand gehen mit den befreundeten Nachbarn, und es stehe zu hoffen, das die Form gefunden werde, die einen Anschluss der Oesterreicher an den Deutschen Schachbund und ein dann gemeinschaftliches Wirken ermögliche." Die Gesamtkonstitution des DSB war dennoch in dieser Hinsicht nicht ganz eindeutig, denn Einzelpersonen aus dem Ausland konnten Mitglied im DSB werden, wenn sie Mitglied in einem deutschen Schachverein waren. Später sollte diese Uneindeutigkeit, auch hier den allgemeinen soziopolitischen Verhältnissen in Europa folgend, noch für Diskussionsstoff sorgen.

Zwanzig erarbeitete eine Satzung, die am 15. Juli 1879 in Leipzig auf dem ersten Kongress des DSB von der Generalversammlung verabschiedet wurde und an der auch Hofrath Dr. von Gottschall, Prof. Dr. Göring, Stadtrath Ed. Hermsdorf, Dr. Max Lange, Johannes Minckwitz und Richard Wuttig, sämtlich aus Leipzig, mitwirkten.

Die „Statuten des Deutschen Schachbundes" von 1879 umfassten gerade einmal sieben Paragraphen. Sie waren damit äußerst kurz gefasst und regelten nur das Notwendigste. Neben allgemeinen Regelungen zur Beitragshöhe, der Beschlussfassung der Versammlung usw. sind es insbesondere drei Merkmale, die in der Folgezeit von besonderer Bedeutung für die Entwicklung des DSB werden sollten. Zum einen konnten, wie oben bereits erwähnt, nach § 2 nicht nur Schachvereine, sondern auch Einzelpersonen Mitglieder des Bundes werden. Zum anderen regelte § 4 die Stellung des Generalsekretärs, der „mit der dauernden Verwaltung der Bundesangelegenheiten betraut" wurde und in Zusammenarbeit mit dem jeweiligen Platzausschuss die Vorbereitungen für den nächst bevorstehenden Kongress zu tätigen hatte. Die Position des Generalsekretärs entfaltete damit sowohl per Satzung, als auch de facto durch die Organisation des jeweils nächsten Bundeskongresses, der gemäß den Statuten alle zwei Jahre zur Ausführung gelangen sollte, eine außerordentlich mächtige Wirkung, was zunächst, so lange Zwanzig das Amt mit energischer, aber gerechter Hand führte, und von Kongress zu Kongress einmütig wiedergewählt wurde, keinerlei Anlass für Konflikte bot.

Das dritte Merkmal bezieht sich auf die allgemeine juristische Konstitution des Bundes. So weit aus den Quellen ableitbar ist, war der 1877 gegründete Bund keine juristische Person im eigentlichen Sinne und hatte demgemäß keine Möglichkeit, dauerhaftes Vermögen zu erwerben. Sein Sitz wechselte alle zwei Jahre von Kongressort zu Kongressort. So wurden beispielsweise bis in die späten 1890er Jahre hinein Spielmaterial, Pokale und Flaggen sowie anderweitiges Dekorationsmaterial zur Veranstaltung der Festlichkeiten, von Kongressort zu Kongressort weitergegeben, wobei es dem jeweiligen Kongressort letztlich oblag, für die ordnungsgemäße Ausstattung in materieller Hinsicht zu sorgen. Der Bund selbst hatte infolge seines niedrigen Beitragsaufkommens und der fehlenden Möglichkeiten, Vermögen beispielsweise durch Erbschaften zu erwerben oder anzusammeln, nahezu keine Aussichten, an dieser so wichtigen Stelle aktiv gestaltend einzuwirken. Es wird später im Zusammenhang mit der Diskussion um die Position Max Langes näher auf diesen juristischen Tatbestand einzugehen sein.

Zwanzig organisierte im Verein mit den Schachfreunden der jeweiligen Vororte insgesamt acht Kongresse nämlich 1879 in Leipzig, 1881 in Berlin, 1883 in Nürnberg, 1885 in Hamburg, 1887 in Frankfurt/M., 1889 in Breslau, 1892 in Dresden und 1893 in Kiel. Über alle Kongresse berichten Kongressbücher, die als einzigartige Dokumente in die Schachgeschichte eingegangen sind. Sie liefern auch heute noch interessante Einblicke in die Schachwelt vergangener Zeiten und legen Zeugnis ab von der kulturgeschichtlichen Bedeutung des Schachspiels in Deutschland.

Hermann Zwanzig war unermüdlich für den DSB tätig. Als er 1894, im Alter von nur 56 Jahren auf einer Geschäftsreise einem Herzinfarkt erlag, umfasste der DSB etwa 90 Schachvereine. Sein Organisationstalent und seine allseits geschätzte Kompetenz und Autorität sollten dem zu dieser Zeit gerade erst 17 Jahre alten Deutschen Schachbund bald fehlen.

Siehe auch das hierzu erscheinende Buch über die Geschichte des DSB, das Ende 2002, Anfang 2003 in einer revidierten und mit umfangreichem Bildmaterial versehenen Fassung erscheinen wird.

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