Siegbert Tarrasch: Schachspieler, Arzt, Deutscher, Jude
Am Leben des Schach-Großmeisters und Arztes Dr. Siegbert Tarrasch wird die
ganze Tragik des Versuches einer jüdischen Assimilation in Deutschland
deutlich, auch wenn Tarrasch nicht in den Gaskammern von Ausschwitz oder
Treblinka hat sterben müssen. Im folgenden werde ich in Anlehnung an
weitergehende, neuere soziologische Untersuchungen und Arbeiten die These
darlegen und vertreten, daß Tarraschs Dogmatismus und seine oftmals verletzende
Art seine Überzeugungen oberlehrerhaft vorzutragen, nur verstanden werden
können, wenn die spezifische Stellung der Juden im Kaiserreich und in der
Weimarer Republik berücksichtigt wird.
Anders als Emanuel Lasker oder auch Savielly Tartakower, die, so können wir
durchaus annehmen, irgendwann nach dem Ende des ersten Weltkrieges (den sie
ebenso wie Tarrasch noch auf der Seite der Achsenmächte Deutschland und
Österreich mitgetragen hatten), erkannt haben müssen, daß eine Assimilation
des Judentums in Deutschland nicht möglich sei und die deshalb nach 1918 den
kosmopolitischen, aber noch der deutschen Kultur verwachsenen Juden darstellen,
anders als Lasker und Tartakower, reagierte Tarrasch als Schachspieler mit den
ihm gegebenen Möglichkeiten auf den Antisemitismus des Kaiserreiches und der
Weimarer Republik im Sinne einer verstärkten Assimilation. Noch im Jahre 1933
nahm er die im Gefolge der nationalsozialistischen Machtergreifung in
Deutschland einsetzende antijüdische Gesetzgebung voller Unverständnis wahr.
Seine Haltung war bis zu seinem Tode hauptsächlich dadurch bestimmt, ein guter,
deutscher Staatsbürger zu sein und seinem Vaterlande zu dienen.
Tarraschs Dogmatismus kann zwanglos durch seinen Kampf um Anerkennung als
Jude unter Deutschen erklärt werden und vieles spricht dafür, daß Siegbert
Tarrasch ein übersteigertes Bedürfnis nach öffentlicher Anerkennung hatte, um
das Gefühl der gesellschaftlichen Minderwertigkeit des Juden zu kompensieren.
Dieser Erklärungsansatz, meine Damen und Herren, ist im schachhistorischen
Schrifttum bislang nicht ausreichend gewürdigt worden. Seine Anwendung liefert
jedoch ein gänzlich neues Verständnis der neueren Schachgeschichte mit der der
Name Tarraschs eng verknüpft ist.
Siegbert Tarrasch wurde am 5.3.1862 in Breslau (polnisch Wroclaw) der
Hauptstadt Schlesiens geboren.
Die
seinerzeit von den Zeitgenossen als epochales Ereignis empfundene Gründung des
Deutschen Reiches im Jahre 1871 erlebte Tarrasch also als bereits neunjähriger
Junge. Breslau beherbergte nach Berlin und Frankfurt die drittgrößte jüdische
Gemeinde Deutschlands.
(Jäckel, Eberhard et al. (Hrsg.), Enzyklopädie des
Holocaust. Band I. Argon Verlag, Berlin 1993, S. 240).
Besonders die etablierten Juden Breslaus, die seit zwei oder drei
Generationen in der Stadt lebten, dachten preußischer als Juden andernorts. Zum
einen weil in Schlesien eine preußische Toleranz herrschte, nach der Juden,
Polen, Sorben, Katholiken oder Protestanten in ihren jeweiligen Grenzen relativ
frei waren. Dies führte zu einer tiefen Bindung der Juden an diesen Staat, der
ihnen, wenn auch keine Gleichberechtigung (in Preußen herrschte das
Drei-Klassen-Wahlrecht, das jedoch nicht spezifisch gegen Juden gerichtet war)
so doch für ihren Bereich Freiheit gab.
Abraham Geiger, liberaler jüdischer Theologe und zeitweise Rabbiner in
Breslau, beschrieb fast hundert Jahre vorher die Haltung der deutschen Juden,
die mit einem unlösbaren Konflikt verbunden war: "Ich liebe Deutschland,
trotzdem, daß mich, den Juden, dessen Staatseinrichtungen verstoßen; fragt die
Liebe nach einem Grunde? Ich fühle mich seiner Wissenschaft, seinem ganzen
geistigen Ernste verwebt, und wer wird den Nerv seines Daseins ungestraft
durchschneiden?".
Zum anderen versuchten sich die etablierten Juden von den in großer Zahl
nach Breslau, dem Kulturzentrum des Ostens, einwandernden Ostjuden, die
überwiegend proletarischer Herkunft waren, abzugrenzen. Man sorgte dafür, daß
man unter sich blieb, um den überwiegend deutschen Charakter der jüdischen
Gemeinde Breslaus nicht zu stören.
In Schlesien, das Friedrich II. von Preußen im Jahre 1741 von den
Habsburgern erobert hatte, war man stolz auf sein Deutschtum und verstand sich
als Speerspitze gegen das Slawentum im Osten. Mitten auf dem Marktplatz von
Breslau stand das Denkmal des verehrten Preußenkönigs. Friedrich Wilhelm III.
hatte während der Befreiungskriege sein Quartier in Breslau bezogen, hatte hier
das Eiserne Kreuz als Kriegsauszeichnung gestiftet und den Aufruf an mein Volk
verfaßt. Das vor allem wurde den Schulkindern als Geschichte Breslaus
beigebracht. Auf Ausflügen führten die Lehrer sie zu den Schlachtfeldern der
Schlesischen Kriege; sie besichtigten die von Friedrich II. angelegte Festung
Silberburg, bewunderten Gasthäuser, in denen er übernachtet hatte, Bäume, an
denen sein Pferd festgebunden war ... .
(nach Adolf-Henning Frucht und Joachim Zepelin: Die Tragik der
verschmähten Liebe. Die Geschichte des deutsch-jüdischen Physikochemikers und
preußischen Patrioten Fritz Haber, in: Mannheimer Forum 94/95, Piper München
1995).
Auch Tarrasch gehörte zu dieser jüdischen Oberschicht Breslaus, die nach
der Gründung des Deutschen Reiches besonders darauf achtete, gute Staatsbürger
abzugeben. Er besuchte die Elite-Schule Breslaus, das Elisabeth-Gymnasium, dem
auch Anderssen seine Bildung verdankte und machte dort Ostern 1880 das Abitur.
In solch einem Umfeld aufgewachsen, wird klar, daß Tarrasch sicherlich zu
den Juden im damaligen Deutschen Reich gehörte, die glaubten, eine Assimilation
der Juden in Deutschland sei möglich und notwendig. Jedenfalls bemühte sich
Tarrasch in der Folgezeit, seine Zugehörigkeit immer wieder unter Beweis zu
stellen und ein guter Deutscher zu sein, sodaß ihn Freiherr E. von Parish in
den Münchener Neuesten Nachrichten hinsichtlich seiner schachlichen Leistungen
als Praeceptor Germaniae bezeichnete.
Seinem ältesten Sohn gab er den Vornamen Fritz, nach dem verehrten König der
Preußen. Auch dies kann durchaus als sichtbarer Ausdruck der
Integrationsbemühungen von Tarrasch gedeutet werden.
Der latente Antisemitismus im Kaiserreich und der Weimarer Republik (im
übrigen kein spezifisch deutsches Phänomen; siehe die Dreyfuss-Affäre in
Frankreich 1894) übte zusätzlichen Assimilationsdruck aus. Beispielhaft für
das Streben Tarraschs nach Anerkennung als Deutscher und für seine empfindsame,
gelegentlich paranoid anmutende Haltung gegenüber der deutschen
Öffentlichkeit, von der er immer wieder eine Diskriminierung aufgrund seiner
jüdischen Herkunft annahm, mögen die folgenden, anläßlich seines guten
Abschneidens in Hamburg 1885 gemachten Zeilen sein (Tarrasch war nur einen
halben Punkt hinter dem Sieger Gunsberg geteilter Zweiter gegen stärkste
Gegnerschaft geworden): "Rückhaltlos erkannte die ausländische
Schachpresse mich an, so besonders Zukertort in 'Chess Monthly' und Steinitz im
'International Chess Magazine'. ... Nur die deutsche Schachpresse, besonders
Minckwitz in der Schachzeitung, hüllte sich in beredtes Schweigen."
(Tarrasch: Dreihundert Schachpartieen. Veit und Comp., Leipzig
1895, S. 64).
Immer wieder wird in den Schriften und Berichten Tarraschs deutlich, daß er
sich nichts sehnlicher wünschte, als von seinen deutschen Mitbürgern als
Deutscher anerkannt zu werden. So sah er sich durchaus in der Nachfolge eines
Adolf Anderssen und es ist sicher keine Floskel, wenn er schreibt: " ...
vielmehr hielt ich es für selbstverständlich, daß ich mein in Breslau
errungenes Renommee (im Turnier des VI. Kongreß des Deutschen Schachbundes in
Breslau war Tarrasch 1889 Sieger geworden, Anm. H.E.B.) bei der nächsten
Gelegenheit wieder auf's Spiel setzen und verteidigen müßte, wie dies ja auch
Anderssen, das Ideal eines Schachspielers, stets getan hat."
(Dreihundert Schachpartieen, Veit und Comp., Leipzig 1895, S.
291).
Und als Tarrasch das Turnier in Manchester 1890 gewann, betonte er, wie er
sich freute, den Herzenswunsch vieler deutscher Schachspieler erfüllt zu haben.
(Ders., a.a.O., S. 295).
Die psychologische Situation in der Tarrasch und viele Juden seiner Zeit sich
befanden, war also diejenige eines Menschen, der immer wieder zu beweisen hatte,
daß er, der Jude, dazugehöre. Aus diesem Grunde konnte er nicht genug
Anerkennung erhalten. Und selbst als ihm die altberühmte "Augustea"
aus Leipzig, der traditionsreiche Schachklub Sachsens, nach seinem Erfolg in
Manchester 1890 telegrafierte: "Dem ersten deutschen Meister gratuliert die
Augustea", empfand er es als diskriminierend, daß er in Deutschland nur
als erster Meister in Deutschland und nicht wie von ausländischen Zeitungen
bereits geschehen, als Champion of the World angesehen wurde.
(Ders., a.a.O., S. 295).
Er wollte nicht erster Deutscher sein, sondern wollte für Deutschland
Weltmeister sein!
Tarrasch hatte in erster Ehe fünf Kinder, drei Söhne und zwei Töchter.
Binnen kurzer Zeit verstarben seine drei Söhne in den Jahren 1914 bis 1916. Der
älteste Sohn Dr. phil. Fritz Tarrasch fiel am 14.5.1915 als Leutnant im 15.
Bayerischen Reserve-Infanterie-Regiment im ersten Weltkrieg. Der zweite Sohn
Tarraschs beging Selbstmord, während der dritte Sohn 1916 in München von der
Straßenbahn überfahren wurde. Welch ein starker Charakter Tarrasch gewesen
sein muß und wie weit sein Bekenntnis und Assimilationsbedürfnis zum Deutschen
Staat ging, wird aus den trotzig anmutenden Zeilen deutlich, die er im Herbst
1916 trotz dieser schweren, persönlichen Verluste schrieb: "Und zweitens
merken wir trotz aller Schrecken des Weltkrieges direkt so wenig von ihnen, daß
unsere Empfänglichkeit für geistige Genüsse völlig die normale ist und daß
wir wie für andere Künste, so auch für die Schachspielkunst reges Interesse
übrig haben. Das Wort 'inter arma silent musae' hat bei uns keine Geltung. E s
g e h t u n s e b e n g u t ! "
(Der Schachwettkampf Tarrasch-Mieses im Herbst 1916. Veit und
Comp., Leipzig 1916, S. 7).
Dennoch dürften diese schweren, innerhalb weniger Jahre erlittenen
Schicksalsschläge sicherlich der Hauptgrund dafür gewesen sein, daß er den im
November/Dezember des gleichen Jahres mit Emanuel Lasker in Berlin ausgetragenen
Wettkampf klar mit 5 1/2 zu 1/2 verlor.
Nach der Scheidung von seiner ersten Ehefrau Rosa Anna Tarrasch im Jahre 1924
heiratete Tarrasch in seinen späteren Jahren ein weiteres Mal und lebte in
München. Im Jahre 1932 gab er, nunmehr 70 Jahre alt geworden, im Selbstverlag
eine eigene Schachzeitung heraus. Im Dezember-Heft 1932 schrieb er: "Kann
Schach nicht schließlich das Nationalspiel der Deutschen werden? Und welche
weiteren Ausblicke bieten sich dann dar! Welche Hebung des allgemeinen
Kultur-Niveaus, ja der Moral, wenn das Schachbrett den Kartentisch verdrängen
würde! Wahrlich, ein Ziel, des Schweißes der Edlen wert!"
(Tarraschs Schachzeitung, Dezember 1932, S. 66).
Wiederum ein klares Bekenntnis zum deutschen Staat.
Anfang 1933 gelang es der NSDAP, obwohl bei den letzten freien Wahlen nicht
von der Mehrheit der deutschen Bevölkerung gewählt, mit Adolf Hitler den
Reichskanzler in der Regierung zu stellen und ihre im Parteiprogramm vom Februar
1920 dargelegten antijüdischen Forderungen in erste gesetzgeberische Maßnahmen
umzusetzen. Das "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums"
vom 7. April 1933 bestimmte, daß sämtliche nichtarischen Beamten entlassen
wurden. Verschont blieben diejenigen, die bereits am 1. August 1914 Beamte
gewesen waren, im Ersten Weltkrieg an der Front für Deutschland oder seine
Verbündeten gekämpft hatten oder Beamte waren, deren Väter und Söhne im
Krieg gefallen waren. Als nichtarisch galt, wer von jüdischen Eltern abstammte.
Auf dem Gebiet des Schachs erfolgte die Einführung antijüdischer Bestimmungen
durch die Gründung des Großdeutschen Schachbundes. "Der Großdeutsche
Schachbund ist am 13. Dezember 1931 gegründet worden. Sein Sitz ist Berlin. ...
er ... nimmt ... als Mitglieder nur Deutsche arischer Abstammung auf".
(Ranneforths Schachkalender 1933, Hedewigs Nachf., Leipzig
1933, S. 113).
Der Deutsche Schachbund wurde schließlich, nachdem dessen langjährige
Führung zurückgetreten war, am 9.7.1933 anläßlich einer gemeinsamen
Hauptversammlung in Bad Pyrmont mehr oder weniger zwangsweise in diesen
aufgenommen.
Was mag Tarrasch gefühlt haben, als er im August-Heft 1933 seiner eigenen
Schachzeitung in Bezug auf den Großdeutschen Schachbund und dessen neue
Bestimmungen schreiben mußte: "Der Arierparagraph solle eingehalten
werden"?
(Tarraschs Schachzeitung, 1933, S. 334).
Gleichwohl hat Tarrasch noch immer über seine jüdische Herkunft geschwiegen
(die dennoch niemandem verborgen blieb).
Anfang des Jahres 1933 war die Situation und Stellung der Juden in
Deutschland trotz dieser ersten, deutlich antijüdischen gesetzgeberischen
Maßnahmen der Nationalsozialisten keineswegs klar und eindeutig. Und niemand
aus der Bevölkerung, weder die eine, deutsche, noch die andere, jüdische,
Seite konnte die tödliche Konsequenz mit der die Nazis vorgehen würden im
voraus erkennen. Und schon garnicht ein auf Assimilation und Deutschtum
bedachter Jude wie Siegbert Tarrasch.
Es mutet fast tragikomisch an, wie auf "deutscher" Seite Heinrich
Ranneforth, der langjährige Herausgeber des Schach-Kalender und durchaus stramm
national gesinnt, angesichts der offenkundigen Zwiespältigkeit und der sich
gegenseitig logisch ausschließenden Denkweisen der Nationalsozialisten (hier
offenkundiges Verdienst der jüdischen Mitbürger an deutschem Leben und
deutscher Kultur, dort aber die in den antijüdischen Gesetzen festgelegte
rassistische Ausgrenzung derselben), in der Deutschen Schachzeitung einen
intellektuellen Drahtseilakt ohnegleichen ablieferte. So schrieb er im Mai 1933
einerseits: "Dagegen sind jüdische Mitglieder in den Schachvereinen immer
stark vertreten gewesen, und auch große internationale Meister sind aus ihnen
hervorgegangen, die den Ruhm deutscher Schachkunst in die Welt hinausgetragen
haben." um andererseits im unmittelbaren Folgesatz zu schreiben: "Das
wird jetzt wohl aufhören". Einerseits schrieb er: "Einstweilen sind
die jüdischen Mitglieder aus allen leitenden Stellungen freiwillig
ausgeschieden", als ob diese freiwillig und ohne Zwang ihre Ämter
aufgegeben hätten, um andererseits im gleichen Atemzug fortzufahren, daß
jüdische Funktionäre "gewiß sein konnten, daß gegen ihre Person, ihre
Denkungsart und Geschäftsführung nichts einzuwenden" gewesen sei.
(Deutsche Schachzeitung Mai 1933, S. 134 ff.).
Schließlich scheint Ranneforth in dem hier zitierten Beitrag für die
Deutsche Schachzeitung im Mai 1933 durchaus der Meinung gewesen zu sein, für
die jüdischen Mitbürger sei ein Leben in Deutschland auch weiterhin möglich,
wobei er aber auch hier in eine für Schachspieler ungewöhnliche
Irrationalität verfiel: "Wer deutsch fühlt und handelt und sich dadurch
dem deutschen Volke innerlich verbunden fühlt, warum soll man den nicht als
Volksgenossen gelten lassen?".
Sicherlich glaubte auch Tarrasch noch immer an eine solche Möglichkeit des
Zusammenlebens. Nichts deutet darauf hin, daß er Deutschland verlassen wollte.
Zweifellos hätte er aufgrund seiner Verbindungen hierzu die Möglichkeit
gehabt. Zunächst hatte er auch nichts zu befürchten, fiel er doch unter die
Gruppe von Juden, deren nächste Angehörige für Deutschland im ersten
Weltkrieg an der Front gekämpft hatten. Vielleicht hat er das Unheil geahnt,
doch glauben konnte er, der deutsche Patriot jüdischer Herkunft aus Breslau,
nicht, daß Hitler, Himmler und Heydrich längst die Ermordung der europäischen
Juden planten.
In einer Anmerkung zu einem Beitrag des zeitweise die Geschäfte des
Deutschen Schachbundes führenden Veterinärarztes Dr. Kiok, Magdeburg, daß
"das Schach wegen seiner hohen geistigen und kulturellen Bedeutung zum
Nationalspiel des geeinigten deutschen Volkes zu machen" sei, verweist
Tarrasch im April 1933 fast appellatorisch flehend auf seinen eigenen Artikel im
Dezember 1932, in dem er eben diese Auffassung doch auch vertreten hatte
("Kann Schach nicht schließlich das Nationalspiel der Deutschen
werden?"). So, als ob er sich und den anderen, den "arischen"
Deutschen, noch ein letztes Mal zurufen wollte: Seht her, ich gehöre doch zu
Euch! Wir wollen doch alle das Gleiche.
(Tarraschs Schachzeitung 1933, S. 223)
Es sollten noch zwei Jahre bis zum Sonntag, den 15. September 1935 vergehen,
daß in Nürnberg Gesetze verabschiedet wurden durch die die deutschen Juden
ihre politischen Rechte verloren. Auch die bis dahin geltenden Ausnahmen für
Veteranen des Ersten Weltkrieges und für Beamte, die ihre Posten vor 1914
eingenommen hatten, verloren ihre Gültigkeit. Tarrasch hat dies -
glücklicherweise - nicht mehr erlebt. Er starb am 17.2.1934.
Ranneforth veröffentlichte in der Deutschen Schachzeitung einen Nachruf, in
dem noch einmal die aus heutiger Sicht seltsam gespaltene Haltung gegenüber den
Juden zum Ausdruck kam und in dem Ranneforth, so kann man durchaus der Meinung
sein, das Gesetz des "Nihil nisi bene" brach. Hier die Anerkennung des
großen Schachspielers Tarrasch, dort die fast zwanghaft anmutende Notwendigkeit
an dem Verstorbenen im Sinne der rassistischen Nazi-Ideologie charakterliche
Schwächen zu entdecken. "In der Frühe des 17. Februars, kurz vor
Vollendung seines 72. Lebensjahres, ist Dr. Siegbert Tarrasch ...
verstorben." Es "nahmen Freunde ... und einige Vertreter Münchner
Schachvereine an der Trauerfeier teil; die Geistlichkeit hielt sich ferne. ...
Er war ja der Mann, der nach Anderssens Tod Deutschlands Schachruhm vor der
ganzen Welt wieder aufrichtete und zu ungeahnter Höhe brachte, und der durch
seine literarische Tätigkeit der Lehrmeister aller geworden ist, die auf den
internationalen Turnieren eine Rolle spielen, mögen sie mit der Zeit auch
eigene Wege gegangen sein. ... Unduldsam und oft genug ungerecht gegen Kritiker,
die sich nicht gängeln ließen, war er selber von mimosenhafter
Empfindlichkeit."
(Deutsche Schachzeitung März 1934, S. 66 ff.).
Ranneforth, die Leistungen Tarraschs für das deutsche Schach damit sehr wohl
anerkennend, hatte nicht verstanden, daß Tarrasch Zeit seines Lebens so Deutsch
wie die Deutschen sein wollte.
Tarraschs Weg der Assimilation und seine Strategie, Zurücksetzungen und
wiederkehrende Demütigungen durch besonders auffälliges
"Deutsch-Sein" die Grundlage zu entziehen, so als sei Antisemitismus
etwas Rationales, was sich auf einleuchtende Weise abwenden ließe, führte in
gesellschaftspolitischer Hinsicht zu keiner Lösung. Es führte aber sehr wohl
dazu, daß Tarrasch aus heutiger Sicht der Praeceptor Mundi des Schachs wurde,
mehr als dies Nimzowitsch, Reti, Lasker oder Steinitz je sein konnten. In Form
dogmatischer Lehrsätze, die er für die (ganze) Schachwelt aufstellte,
sublimierte er sein Bedürfnis, ein Deutscher unter Deutschen zu sein (und nicht
Jude unter Deutschen).
Fritz Haber, der Begründer des Haber-Bosch-Verfahrens zur Ammoniak-Synthese,
Entwickler und Organisator der chemischen Kriegführung im I. Weltkrieg und
Erfinder der Blausäurebegasung zur Schädlingsbekämpfung, war ebenfalls Jude
aus Breslau, gehörte derselben Generation wie Tarrasch an und machte am
gleichen Gymnasium wie dieser sein Abitur. Über diesen Fritz Haber schrieb
Albert Einstein, was durchaus auch auf Tarrasch zutreffen mag: "Es war die
Tragik des deutschen Juden, die Tragik der verschmähten Liebe."
Siegbert Tarrasch, meine sehr geehrten Damen und Herren, war ein deutscher
Jude, ebenso wie Wilhelm Steinitz ein im deutschen Kulturkreis aufgewachsener
Jude war, dem die Schachwelt viel zu verdanken hat! Und auch die durch
Nationalsozialisten und Rassisten in Deutschland und anderswo in die Wege
geleitete Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden können das Faktum
der Deutsch-Jüdischen Kultur der damaligen Zeit nicht negieren. Das wäre dann
doch das zweite Kriegsziel, welches Hitler noch erreichen könnte.
Die komplexen Zusammenhänge Deutsch-Jüdischer Geschichte, nicht nur in
Schlesien, verdienen es, für das Schach der Vergessenheit entzogen zu werden.
Schachhistorisch ist aus heutiger Sicht klar, daß die Entwicklung des modernen
Schach (ich meine hier das moderne Turnierschach), beginnend 1851 mit Adolf
Anderssen, ohne die Leistungen der deutschen Juden Wilhelm Steinitz, Siegbert
Tarrasch und Emanuel Lasker in ihrem zumindest bis 1945 mitteleuropäisch und
damit hauptsächlich Deutsch bestimmten Kontext nicht ausreichend dargestellt
werden kann. Dies mag man heute, mehr als sechsundfünfzig Jahre nach der
Kapitulation Nazi-Deutschlands, im Jahre 2001 sehr wohl sehen.
Und Siegbert Tarrasch aus Breslau, der in Wahrheit Praeceptor Mundi des
Schachs, würde es wohl auch so sehen.
© Harald E. Balló