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166. Beuteschach - Die Russen in Deutschland

Es gehört in der heutigen Zeit zur sogenannten political correctness die Kapitulation Nazi-Deutschlands als Befreiung von der Nazi-Herrschaft zu bezeichnen. Unstrittig ist jedoch auch, selbst wenn dies aus den unterschiedlichsten Gründen nicht immer zum Ausdruck gebracht wird, daß der 8./9. Mai 1945 gleichzeitig auch eine schmerzliche Niederlage bedeutete. Nicht nur, aber insbesondere die Bewohner des mittleren und östlichen Teiles von Deutschland haben unter der Besetzung ihres Landes nach der Niederlage zu leiden gehabt. Unsagbar ist das an der größtenteils unschuldigen deutschen Bevölkerung verübte Leid gewesen. Aber, so sagte uns erst kürzlich eine aus dem ehemaligen Königsberg stammende Frau, die trotz schlimmster Erlebnisse ihre Würde nicht verloren hat, „über unsere Not und unser Leid spricht niemand und schon gar nicht wir Ostpreußen selbst".

Erst nach dem Fall der Mauer in Berlin und der Öffnung ehemals sowjetischer Archive wurde einem größeren Kreis der deutschen Öffentlichkeit deutlich, in welch unvorstellbaren Ausmaße während und nach der viereinhalbjährigen sowjetischen Besatzungszeit auch der materielle Reichtum Deutschlands demontiert und ausgeplündert worden ist (Für eine umfassende Darstellung der russischen Raub- und Beutezüge siehe Norman Naimark, Die Russen in Deutschland. Die sowjetische Besatzungszone 1945-1949. Ullstein Buchverlage, Berlin 1997). Den Kampftruppen auf den Fersen, marschierten ganze „Beute"-Batallione in Mittel- und Ost-Deutschland ein und transportierten alles ab, was nicht niet- und nagelfest war und von gewissem Wert sein konnte. Auch Kulturgegenstände jeglicher Art waren dabei betroffen, wobei es freilich zunächst das Ziel der sowjetischen Funktionäre war, diejenigen wertvollen Kunstsammlungen und -schätze zurückzuholen, die von den Deutschen zuvor geraubt und erbeutet worden waren. Dennoch suchten die Russen nicht nur ihre eigenen Kunstschätze heimzuholen, sondern waren auch darauf aus, deutsche Kunst- und Kulturgegenstände in ihren Besitz zu bringen. Sie waren überwältigt von dem Reichtum, den sie in Deutschland vorfanden und abtransportieren konnten. Der oberste Kulturfunktionär der Sowjetunion, Chraptschenko, schrieb, es sei nun möglich, Moskaus Puschkin-Museum in eines der großen Museen der Welt umzuwandeln, vergleichbar dem British Museum, dem Louvre in Paris oder der Eremitage in St. Petersburg. Ganze Bibliotheken mit sowohl wissenschaftlicher, denn die Sowjets waren an deutschem Technik- und Wissenschaftswissen interessiert, als auch kulturhistorischer Literatur wurden ausgeraubt. Alleine zwischen Dezember 1945 und Juli 1946 sammelten die Spezialisten der Abteilung Volksbildung rund 25 Bibliotheksbestände mit insgesamt 1 300 000 Bänden ein und brachten sie nach Berlin, wo sie zum Abtransport in die Sowjetunion verpackt wurden. Mit dem SMAD-Befehl (Sowjetische Militäradministration Deutschland) Nr. 012 vom 9. März 1946 erhielt die Abteilung zusätzlich auch das Recht, Privatbibliotheken und -sammlungen zu beschlagnahmen. Hierdurch stieg die Zahl der für den Abtransport verfügbaren Bücher noch einmal erheblich an. Insgesamt, so schätzt Naimark, wurden wohl an die sieben Millionen Bücher in die Sowjetunion verbracht. Darunter waren sicher auch Schachbücher.

Neben den Büchern mit nur gelegentlichem Schachbezug, welche sich als Einzelstücke unter den wertvollen Beständen der beispielsweise 200 000 Druckschriften und mehr als 50 000 seltene Drucke umfassenden Berliner Staatsbibliothek oder unter den vielen Handschriften und 131 Frühdrucken des Deutschen Buch- und Schriftmuseums in Leipzig befunden haben, ist hier insbesondere auch die „unbestreitbar wertvollste Kollektion von Schachbüchern" (Joachim Petzold), die die Deutsche Staatsbibliothek in Berlin besaß, zu nennen. Den Grundstock für diese Bibliothek hatte einmal der Ankauf der Sammlung des Gründers der Deutschen Schachzeitung Ludwig Bledow im Jahre 1847 gelegt. Alle der etwa 350 seltenen und seltensten Schachbücher sind seit ihrer Auslagerung während des Zweiten Weltkrieges verschollen, so teilt Joachim Petzold in seinem verdienstvollen, freilich reichlich euphemistisch gehaltenen Beitrag über den Verlust unschätzbarer Kulturgüter mit (Prof. Dr. J. Petzold: Schachbibliotheken in der DDR. In: Schach, September 1974, S. 272). Sie werden inzwischen in feuchten russischen Kellern vermodert sein. Auch die bedeutenden Dresdener Bestände, die im wesentlichen auf die Sammlung des berühmten Problemkomponisten Johannes Kohtz (Kohtz war am 5. Oktober 1918 in Dresden verstorben) zurückgingen, sind verschollen. Hier ist es möglich jedoch eher unwahrscheinlich, weil die wertvollen Bücher ausgelagert worden waren, daß die Bestände im Feuer des Bombenangriffes auf die mit Flüchtlingen überfüllte Stadt verbrannten. Nach einer Anmerkung von Petzold in dem bereits zitierten Beitrag für Schach im Jahre 1974 scheinen die Schachbücherbestände der Landesbibliothek Thüringens in Gotha noch vorhanden zu sein, obwohl auch in Gotha der Raub von mehr als 5000 wertvollen Büchern aus dem 16. bis 18. Jahrhundert beklagt wird.

Leider erbrachte der Vergleich einer von uns im März 1997 dem Bundesministerium des Innern vorgelegten Liste alter und ältester Schachbücher mit den derzeit zur Verfügung stehenden Verlustangaben von Bibliotheken keinen Hinweis auf eine konkrete Zuordnung geraubter Schachbücher. Dabei ist jedoch insgesamt zu berücksichtigen, daß beispielsweise die 350 Bände der seinerzeit umfassendsten Sammlung von Schachbüchern (Sammlung Bledow), welche in der Deutschen (ehemals Preussischen) Staatsbibliothek Berlin, aufbewahrt waren, einen nur verschwindend kleinen Anteil am Gesamtverlust der sieben Millionen in die Sowjetunion verschleppten Bücher ausmachen und deshalb sicherlich schwer ausfindig zu machen sein werden, zumal die Datenlage nicht sehr gut ist und die Beschaffung von fundiertem Datenmaterial von russischer Seite auch heute noch behindert wird.

Mit der Erklärung der Beutekunst zum russischen Eigentum durch das russische Parlament, die Duma, im März 1997 haben die maßgeblichen politischen Akteure Russlands nicht nur das Völkerrecht grob mißachtet, sondern auch verbindliche Verträge mit Deutschland, wie den deutsch-russischen Vertrag über gute Nachbarschaft vom 9. November 1990 gebrochen, in dem es klar und deutlich heißt, daß „verschollene oder unrechtmäßig verbrachte Kunstschätze an den Eigentümer oder seinen Rechtsnachfolger zurückzugeben" seien. Auch im deutsch-russischen Kulturabkommen vom 16. Dezember 1992 ist diese Passage noch einmal enthalten. Seit einem Treffen der deutsch-russischen Rückführungskommission am 24. März 1994, an dem die deutsche Seite eine 210 Seiten lange Liste vorlegte, die rund 200 000 Museumsobjekte, zwei Millionen Bücher und drei Kilometer Archivmaterial verzeichnete, ist jedoch nichts passiert. Im Gegenteil, die 1945 von Stalin zwecks Durchführung des Kunst- und Kulturraubes zum Major ernannte, heutige Direktorin des Puschkin-Museums, Irina Antonowa, leugnete jahrelang die Existenz der Beutekunst in ihrem Haus. Jetzt verdient sie Geld an den Ausstellungen. Ist das der Preis, den wir zahlen müssen nicht nur für die deutsche Vergangenheit, sondern vor allem für die desaströse russische Gegenwart (Petra Kipphoff in der Zeit vom 14. Februar 1997)?

Da fallen uns die Worte der früheren Premierministerin Englands, Margaret Thatcher, ein, die diese im Rat der Europäischen Gemeinschaft immer und immer wieder wiederholte: „We want our Money (Chess-Books) back!".

167. Adriaen van der Werff

Glücklicherweise wurde jedoch auch ein Teil der geraubten Kulturgüter von den Sowjets bereits zurückgegeben. Wir fanden bei der Lektüre des in erster Auflage sehr selten nur auffindbaren, kleinen Büchleins von Claudius Hüther, Schnell Matt! (Selbstverlag München 1913) ein Gemälde abgebildet, das sich im Jahre 1913 noch in der Dresdener Gemälde-Galerie befunden hatte. Wir forschten ängstlich nach dem Verbleib des Bildes und waren ganz besonders erfreut, daß in der Gemäldegalerie Alte Meister in der Staatlichen Kunstsammlung Dresden das sehr schöne Gemälde von Adriaen van der Werff (1659-1722), Herr und Dame am Schachbrett, dort noch bzw. wieder vorhanden ist. Wie wir erfuhren, waren sämtliche Bilder der Gemäldegalerie vor (!) Kriegsbeginn im Sommer 1939 in Schlösser der Umgebung von Dresden gebracht worden. Unmittelbar vor Kriegsende waren die Bilder dann in umliegende Bergwerke und stillgelegte Eisenbahntunnel verbracht worden, von wo aus sie im Mai 1945 nach Russland transportiert worden waren. Erst im Rahmen einer größeren Rückführung von Kulturgütern wurden die wichtigsten Bilder 1955 an die damalige DDR zurückgegeben.

Das Gemälde van der Werffs war im Jahre 1751 durch Riedel in Leipzig auf der Ostermesse erworben und von der Königin dem König von Sachsen, Friedrich August II. (1733-63), geschenkt worden. Vielleicht hat zu der Wahl des Geschenkes durch die Königin auch die Tatsache beigetragen, daß zu jener Zeit Heinrich Graf von Brühl (1700-63) ein mächtiger Mann am Hofe des Königs von Sachsen war und ein Verwandter des Grafen, nämlich Hans Moritz von Brühl (1736-1809), zu den starken Schachspielern seiner Zeit gehört haben dürfte. Dieser lebte als sächsischer Gesandter in London und spielte des öfteren auch gegen Philidor (Hooper und Whyld, The Oxford Companion to Chess, 2nd Edition, Oxford 1992).

Im Verzeichnis der Werke van der Werffs von Barbara Gaethgens wird das Gemälde unter den van der Werff nur zweifelhaft zuzuschreibenden Werken aufgeführt, eine Bewertung, der sich Frau Dr. Uta Neidhardt von der Gemäldegalerie Alte Meister in Dresden nicht ohne weiteres anschließen würde. Das Gemälde steht in der ikonografischen Tradition der europäischen Kunst, in der das Schachspielen zunächst mit dem Vanitas-Gedanken (Vanitas lat. = Eitelkeit) verbunden war. Andererseits wurde das Wettspiel auch häufiger mit dem Spiel der Liebe gleichgesetzt. Im Bild von van der Werff ist die metaphorische Verbindung zum Liebesspiel offenkundig. Mann und Frau sitzen am Schachbrett, die Personifikation des Sieges steht hinter ihnen. Der Mann setzt gerade eine Figur, während die Frau auf ihre Dame zeigt und damit deutlich zu machen versucht, daß sein Sieg unerheblich ist im Vergleich zum Triumph der Liebe, den die Dame als Stellvertreterin der klugen Frau erringt (Vgl. hierzu auch den Katalog der Ausstellung: Von Frans Hals bis Vermeer. Meisterwerke Holländischer Genremalerei. Gemäldegalerie Staatliche Museen Preuussischer Kulturbesitz Berlin (Dahlem) 8. Juni bis 12. August 1984).

Damit endet die erste Serie der Schach-Zettel. Schach-Zettel 167 war für das Dezember-Heft 1997 der Schachzeitung Schach/Deutsche Schachzeitung, Berlin, (Chefredakteur: Raj Tischbierek) erstellt worden. Beginnend mit der Nummer 168 werden wir in einer neuen Serie versuchen, schachhistorische Aspekte zu thematisieren. Diese neue Serie wird Anfang 2002 in's Netz gestellt werden können. Für Anregungen, Anmerkungen und Hilfen sind wir immer dankbar. 

Wir bitten Sie, alle Zuschriften per email zu richten an: Hallo@Ballo.de

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