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71. Anderssen - Morphy Paris 1858 Es wird im allgemeinen die Ansicht vertreten, daß Anderssen als einer der Hauptvertreter des sogenannten romantischen Schachs an der überlegenen positionellen Führung der Schachpartie durch Morphy gescheitert sei. Anders als Morphy habe Anderssen die rasche Entwicklung der Figuren vernachlässigt und das Zentrum nicht ausreichend beachtet. Morphy habe dies verstanden, Anderssen eben nicht. Es war insbesondere Réti (Die neuen Ideen im Schachspiel, Berlin 1922) der diese Behauptung posthum aufstellte, und zwar mehr als 60 Jahre nach dem Kampf Anderssen-Morphy, Paris 1858. Die These, Anderssen habe den Kampf wegen seines Mangels an Verständnis positioneller Schachprinzipien verloren, wurde in der Folgezeit zunächst widerspruchslos aufgenommen, weil sie holzschnittartig einfach und pädagogisch gut in die gängige Entwicklungsgeschichte des Schachspiels passte. Sie wurde von vielen Autoren nach Réti kritiklos wiederholt. Sie weist jedoch verschiedene Mängel auf und wurde deshalb zuerst von Fred Reinfeld in seinem erfrischenden, gängige Theorien und Legenden anzweifelnden Buch, The human Side of Chess (Faber und Faber, London 1953) angegriffen. Bob Meadley und John van Manen, beide Australien, haben bereits (siehe auch SZ 31, 48 und 68) darauf hingewiesen, daß Anderssen bei seinem Wettkampf gegen Paul Morphy in Paris an Weihnachten 1858 wesentlich durch mangelnde Schachpraxis behindert war. Es kann deshalb keinesfalls von einer generellen schachlichen Überlegenheit Morphys gesprochen werden. Im Gegensatz zu Morphy, der seit dem ersten amerikanischen Schach-Kongress im November 1857 seine schachlichen Fähigkeiten im Kampf gegen die stärksten Meister seiner Zeit ständig verbessern und weiterentwickeln konnte, ist von Anderssen keine einzige Partie zwischen 1857 und Weihnachten 1858 bekannt. Anderssen war nach dem für ihn wenig erfolgreichen Turnier in Manchester im August 1857, in dem er gegen Löwenthal verlor und ausschied, nach Breslau in das ruhige Umfeld seines Gymnasiums zurückgekehrt. Morphy hingegen stand durch seine Kämpfe mit den starken Meistern Thompson, Meek, Stanley, Schulten, Lichtenhein und Louis Paulsen (in Amerika), Löwenthal, Barnes, Bird, Boden, Lowe, Medley, Mongredien und Owen (in England) sowie de Rivière, Harrwitz , Kling, Preti, Journoud und Kieseritzky (in Frankreich) auf der Höhe seiner schachpraktischen Fähigkeiten, war im besten Trainingszustand und hatte demgemäß auch hinsichtlich der Schachtheorie die neuesten Erkenntnisse erlangen können. Auch anderweitig waren die Umstände des Kampfes an Weihnachten 1858 ungüstig für Anderssen. Dabei ist zunächst die für ihn fremde Umgebung in Paris zu nennen, in der die Zuschauer darüberhinaus durch euphorische und glorifizierende Beifallskundgebungen für seinen Gegner störten. Sie trugen damit zu einem für Anderssen auch psychologisch ungünstigen Umfeld bei. Schließlich war Anderssen insgesamt unvorbereitet und rasch aus Breslau aufgebrochen und hatte eine anstrengende Reise nach Paris auf sich genommen. Er hatte Breslau am 11.12.1858 verlassen und war, nachdem er eine Rast und Reisepause in Köln bei seinem Freund Adolf Carstarnjen eingelegt hatte, am Abend des 14.12.1858 in Paris eingetroffen. Anderssen selbst hat auf die Frage, ob er denn an eine Überlegenheit des Gegners im ganzen glaube, die für ihn so ungünstigen Umstände sehr gut charakterisiert, indem er antwortete, "das falle ihm nicht im Traume ein - jedoch sei eben die Schachmeisterschaft nicht gleich einem Kleinode im Glasschränkchen aufzuheben, um sie zur Notzeit bei der Hand zu haben, sondern sie könne eben einzig nur durch stete gediegene Praxis conserviert werden" (Ludwig Bachmann: Schachmeister Anderssen. Brügel, Ansbach 1902). Die meisten zeitgenössischen Autoren deutscher Sprache wie Max Lange (1832-1899), der mit Anderssen auch persönlich in engem Kontakt stand, und Rudolf von Gottschall (1823-1909) haben Anderssens Mangel an Schachpraxis als sehr gravierend für den Fortgang des Zweikampfes angesehen. Auch der noch mit Zeitgenossen des Kampfes in Kontakt stehende Ludwig Bachmann (1856-1937) sah dies so. Die erste Match-Partie der beiden in Paris 1858 zeigt, daß Anderssen keineswegs die Entwicklung vernachlässigte, sondern bereits ausgangs der Eröffnung entscheidenden Vorteil erlangt hatte.
72. Philidor Am 31.8.1995 jährte sich der Todestag von François-André Danican genannt Philidor zum 200. Mal (siehe SZ 19). Aus diesem Anlaß erschienen zwei bemerkenswerte Bücher. Bei Zurfluh, Paris 1995 (ISBN 2-87750-068-3), erschien Jean-François et Nicolas Dupont-Danican Philidor (Hrsg.): Les Philidor. Une dynastie de musiciens [=Le Temps Musical, Nr. 3]. Die Verfasser gehören zu den Nachkommen des berühmten Schachspielers und haben sich die Erforschung und die Dokumentation des Lebens von Philidor zum Ziel gesetzt. In dem 134 S. umfassenden Büchlein erfahren wir also von kundiger Hand einiges über Vorfahren und Leben des Schachspielers. Das Buch ist im wesentlichen in zwei Teile gegliedert: Les Premiers Philidor (S. 9-41) und François-André. Compositeur et Joueur d’Echecs (S. 43-126). Daran schließen sich eine kleine, 19 Titel umfassende Bibliografie sowie eine Ahnentafel. In dem leider nur im Klebebindeverfahren gebundenen Buch, finden sich einige interessante, im allgemeinen wenig bekannte Abbildungen wie u.a. das Schachspiel und die Schachfiguren Philidors. Das zweite Buch über Philidor ist bei Picard, Paris 1995 (ISBN 2-7084-0451-2. Auslieferung durch Picard, Librairie internationale, 82 rue Bonaparte, F-75006 Paris) erschienen; Philidor musicien et joueur d’èchecs in: Recherches sur la musique française classique. Band XXVIII - 1993-1995. Das 264 S. umfassende Buch ist in drei Abschnitte gegliedert. Der erste Teil (S. 3-64) beinhaltet ein Vorwort sowie vier tragende Artikel über Philidor (L’homme et sa famille von J.-F. Dupont-Danican; Philidor à Londres von J. Carter; Philidor et le style philidorien von Ch. M. Carroll; Philidor et l’histoire des échecs von J.-P. Georgy). Im zweiten, umfangreicheren Teil (S. 65-191) wird die gesamte bekannte Korrespondenz Phildors geliefert. Darauf folgen drei wichtige von Marcelle Benoit erstellte Indices (S. 193-209), die die Erschließung der Korrespondenz erleichtern helfen sowie biografische Notizen (S. 211-230). Die Seiten 231 ff. handeln nicht über Philidor. Das mit Fadenbindung versehene, aber flexibel gebundene Buch enthält darüberhinaus noch acht nicht paginierte Seiten mit Abbildungen. Es wird wegen des abgedruckten Briefwechsels von Philidor in Zukunft eine unverzichtbare Quelle sein. Beide Bücher erfordern zum Verständnis die Kenntnis der französischen Sprache. Schließlich weist H.-W. Fink, Koblenz, der Herausgeber von Pour Philidor, noch auf einen Katalog hin, der anläßlich einer Ausstellung in Philidors Geburtsort Dreux erstellt wurde. Wir haben versucht, einige Exemplare dieses Kataloges Philidor et son temps 19 juin - 14 juillet zu erhalten, wurden aber telefonisch belehrt, daß bei einer Auflage von 200 keine Exemplare mehr vorhanden sind. 73. Anderssen in Groß-Machmin Uwe Müller, Chemnitz, liefert die folgenden Angaben über Groß-Machmin (s.a. SZ 60 und SZ 67). Groß-Machmin liegt zwischen Stolp (Stupsk) und dem Ostseebad Stolpmünde (Ustka) in Pommern (jetzt Republik Polen). In Ritters Geographisch-statistisches Lexikon (2. Bd. L-Z, 6. Aufl., Leipzig 1874, S. 98) heißt es: „Machmin (Groß- u. Klein) 2 Dörfer in Preußen, Regierungsbezirk Köslin (Koszalin), Kreis Stolp, 433 und 525 Einwohner (EW.), 2 Mühlen“. In der 9. Aufl. (1910) des gleichen Lexikons (Band 1, A-K, S. 869) wird ausgeführt: „Grossmachmin, Gutsbezirk in Pommern, Regierungsbezirk Köslin, Kreis und Amtsgericht Stolp, Post Karzin, 254 Ew.“ Wir bemerken zunächst anhand der über die Jahre sinkenden Einwohnerzahlen das Phänomen, welches im soziologischen Schrifttum als allgemeine Landflucht bezeichnet wird. Wenn Groß-Machmin ein Gutsbezirk war, muß es auch einen entsprechenden Gutsbesitzer dort gegeben haben, meint Müller und fährt fort: “Es ist durchaus denkbar, daß Anderssen bei der Gutsbesitzer-Familie die genannte Hauslehrer-Stelle einnahm. Wer sich dahinter verbirgt, konnte ich nicht ermitteln, da mir spezielle Pommern-Handbücher nicht zur Verfügung stehen. Da Anderssen über gute Beziehungen zu den Berliner Schachspielern verfügte und die Berliner Schachgesellschaft ihm 1851 die Teilnahme am Londoner Turnier ermöglichte, ist sicher die Annahme berechtigt, daß von Berlin aus Spuren nach Groß-Machmin führen“. Wie Dietmar Friedrich, Saarlouis, unter Bezugnahme auf das Anderssen-Buch von Gottschall mitteilt, bereitete sich Anderssen bis zu seiner Abreise zum Londoner Turnier am 17.Mai 1851 in Berlin vor. Wer kann dem Ansatz Müllers folgend in speziellen Pommerschen Handbüchern nach weiteren Informationen über Groß-Machmin und dessen Bevölkerung sowie den Gutsbesitzer forschen? 74. Kreuzschach Peter Schmidt, Kiel, fiel in ähnlicher Stellung wie Romanowsky (s. SZ 62) einem Kreuzschach zum Opfer. In einem Kampf zur Vereinsmeisterschaft der Kieler Schachgesellschaft kam es zur folgenden Stellung:
75. Bogoljubows letzte Partie Zu SZ 63 teilt uns Dr. H.-J. Wagner, Paderborn, die folgende Stelle aus Caissa, Heft 13/1952, S. 255 mit: „Heilbronn. - Seine letzte Simultanveranstaltung gab Großmeister Bogoljubow drei Tage vor seinem Tode in Heilbronn, wo er an 45 Brettern mit dem Ergebnis +31 =8 -6 spielte. Als Abschluß dieser Veranstaltung, zu der über 100 Schachspieler erschienen waren, spielte Bogoljubow eine Uhrenpartie gegen den württembergischen Meisterspieler Löchner, die er eindeutig gewann.“ Also galt schon in der zeitgenössischen Schachpresse die Veranstaltung in Heilbronn als letztes schachliches Auftreten Bogoljubows, und die genannte Partie gegen Löchner scheint wohl tatsächlich seine letzte öffentliche Schachpartie gewesen zu sein. Wir bemerken nur noch abschließend, daß nach den von Löchner in SZ 63 mitgeteilten Angaben Bogoljubow von 46 Partien 12 remisierte und nur vier verlor. Wir bitten Sie, alle Zuschriften per email zu richten an: Hallo@Ballo.de |